Thunder in Paradise: Querdenkerei im ideologiekritischen Gewand

„Wem es gelingt, mit viel Geblök Gefühle zu wecken, hat gute Chancen auf Erfolg.“
(Thunder in Paradise)

I.

Donnerlittchen! Nur zwei Jahre nach Ausbruch der Coronapandemie meldet sich die Gruppe Thunder in Paradise (TiP) zu Wort, um ihrem Publikum mit antifaschistischer Staatskritik heimzuleuchten und die öffentliche Debatte um Virus, Präventionspolitik und bürgerliche Freiheiten mit ihrem redundanten Geschwätz anzureichern. Die Zeiten sind hart, das gewohnte Diskursgeschäft gegen die im Sinkflug befindliche Islamisierung läuft schleppend und so müssen sich Frankfurter Sprach- und Diskurskritiker:innen mit umso lauterem Donner Gehör verschaffen: der Staat ist mit seinen Corona-Maßnahmen zu weit gegangen, fünf vor zwölf schlägt’s auf der Faschismus-Uhr. Zeit also für eine Vortragsreihe!

Es ist methodisch typisch für solcherlei Jeremiaden vorgeblich kommunistisch interessierter Kritiker:innen, dass diese ihre politischen Urteile an keiner Stelle mit ihrem Gegenstand konfrontieren. Stattdessen werden ihre die Wirklichkeit verzerrenden „Thesen“ mit Versatzstücken des Marxismus, einem Schuss Subjekttheorie und allerhand verstreuten Soziologismen über den Verlust der Öffentlichkeit, der Bildung und des privaten Glücks zur großtheoretischen Agenda „aufgemotzt“.

Zu Beginn des Textes grenzen sich die Verfasser:innen von der „abstrakten Staatskritik“ des ça ira-Verlags ab. Die linken Antideutschen seien dem theoretischen Dogma verhaftet, der Staat müsse temporär die lebendige Arbeitskraft schützen, notfalls und temporär auch gegen Kapitalinteressen. Dies hält man als „Kritiker von Staat und Kapital“ in der Tat für richtig, denn schließlich hat auch die eigene Forschung ergeben, dass die deutsche Bundesregierung ihre Entscheidungen während der ersten Pandemie-Monate vom BDI-gesteuerten Expertenrat souffliert bekam und sich mitnichten für die Belange der Schwächsten der Gesellschaft interessiert. Das „Wohl und Wehe“ der Bürger sei für den Staat nur „Voraussetzung für die Intakthaltung des Arbeitskräftereservoirs“, „das er zu Verwertungszwecken vorhalten muss“. In der Tatsache, dass der Staat als ideeller Gesamtkapitalist auch immer gegen die Interessen bestimmter Kapitalgruppen und Klassenindividuen regieren muss, um die gesellschaftliche Reproduktion gewährleisten zu können (ein Umstand der in Krisen verstärkt zum Tragen kommt), erblickt die „konkrete Staatskritik“ von TiP ein „Primat der Politik“, das sich zum Erhalt der industriellen Reservearmee für das Kapital dauerhaft durchgesetzt habe. Der Staat trete nicht mehr als „Statthalter eines vernünftigen Allgemeinen“ auf, sondern setze eine „paranoide“ und „tendenziell suizidale“ Politik des Notstands als neuen Standard der Regierungskunst durch. Ökonomisch opfere er den deutschen Mittelstand auf dem Altar der Großkonzerne, damit er in der Weltmarktkonkurrenz „reüssieren“ kann. Politisch traktiere er „die Leute“ mit „pädagogischer Dauerbetreuung“ und nehme ihnen so die „minimalen Freiheiten der bürgerlichen Gesellschaft“.

Die Freund:innen der konkreten Staatskritik, die sich der „gesellschaftlichen Auseinandersetzung“ nicht entziehen, waren sich offenbar bis dato sicher, sie könnten unter kapitalistischen Bedingungen „vom Staat unbehelligt“ leben und als mündige Privatleute, ihren „individuellen Glücksanspruch“ verfolgen, also ungeachtet der gesellschaftlichen Krise, die von einem für Millionen gefährlichen Virus ausgelöst wurde, sich weiter „aus-“, statt nur „überleben“. Ob man im Winter 2022 auch bei heißen Fallzahlen noch coole Drinks genießen kann, ist bei weiterhin zu niedrigen Impfquoten in Deutschland mehr als ungewiss. In Anbetracht der entsprechend fortbestehenden Einschränkungen der gewohnten Lebensführung verspürt die Kritiker:in eine empfindliche Erschütterung der „Macht“ im Staat. In dem Flickenteppich von Maßnahmen und Regelungen, zuwiderlaufenden Gerichtsurteilen und temporären Verordnungen vor Ort, kurz der notwendigen demokratischen Aushandlung der praktischen Widersprüche, die allen Klassenindividuen mit der Corona-Pandemie auf unterschiedliche Weise aufgenötigt wurden, erkennt sie ganz neue „Freiheiten zum Durchregieren“. Diese würden sich Gesundheitsexpert:innen, Klimaschützer:innen und Journaille auch nach Überwindung der Krise nicht mehr nehmen lassen. Ausgerechnet anhand der offenkundigen Funktionsfähigkeit von Föderalismus und demokratischer Gewaltenteilung unter Krisenbedingungen – nichts Anderes stellen die widersprüchlichen und teils absurd wirkenden Entscheidungen der letzten zwei Jahre dar – erblicken sie den dräuenden Faschismus.

Diese interessierte Verzerrung der Wirklichkeit geht offen in die Lüge über, wo die konkrete Staatskritik behauptet, in der öffentlichen Debatte über Corona sei die Meinungs-, gar die Gedankenfreiheit in Gefahr. Als wäre nicht jedes Argument, dass TiP gegen den „Kurs der Pandemiebekämpfung“ zustande bringt, von den Vertreter:innen der staatstragenden Eliten längst selbst vorgebracht worden, als wäre nicht jede einzelne Maßnahme hierzulande von Beginn an mit Zustimmung oder Spott, mit Gleichmut oder Abscheu bedacht, jedenfalls öffentlich und vor aller Aug‘ und Ohren diskutiert worden. Nicht aber in China, wo Schergen der Staatspartei mit Lagerhaft, Einsperrung und lückenloser Überwachung der sozialen Medien jeden Widerspruch zur mutwillig verschleppten Pandemiebekämpfung der KP unterdrücken, auch nicht in Russland, Tschetschenien oder Turkmenistan, wo das Virus selbst und die verheerenden Todeszahlen monatelang verschwiegen wurden, sondern im politisch liberalsten Staat, den Frankfurter Weißbierphilister je auf deutschem Boden gesehen haben dürften, sei der Faschismus auf dem Weg. Dass die Pandemie in vielen Ländern zur autoritären Niederschlagung demokratischer Protestbewegungen genutzt wurde – so etwa in Hongkong, in Algerien, im Libanon, in Ungarn und Aserbaidschan – interessiert die Kritiker:innen der „Entgrenzung des Staates“ nicht. Ebenso wenig der Umstand, dass die rechtsstaatlichen Institutionen in Deutschland während der Pandemie personell und organisatorisch unverändert weiterarbeiteten. Die temporär begrenzten Maßnahmenpakete und die parlamentarisch bereits wieder beendete epidemische Notlage von nationaler Tragweite sind ihr Beleg dafür, dass Grundgesetz und bürgerliche Freiheitsrechte nur mehr formal in Kraft seien und jederzeit suspendiert würden, wenn die „orakelnden Einpeitscher“ den „geistig“ arbeitenden Knechtsnaturen nur das richtige „moralische Gebot“ einbläuen.

Die Freiheit und Gleichheit unter den Menschen erscheint den Ideologiekritiker:innen als Trutzburg gegen die staatliche Gängelung, gegen die Regierung überhaupt. Die relative Freiheit und Gleichheit der Privateigentümer:innen sind jedoch keine Ideale, mit deren formelhafter Beschwörung sich die Bürger:innen gegen eine „entgrenzte“ Staatsmacht schützen könnten, sondern ökonomische Formbestimmungen, soziale Resultate der kapitalistischen Produktionsweise. Unter privatkapitalistischen Produktionsverhältnissen ist die „»Gleichheit all dessen, was Menschenantlitz trägt« (Adorno)“ eine Verkehrsform der Klassenindividuen, durch die hindurch die gesellschaftliche Bewegung des Kapitals von der bornierten Freiheit der Konkurrenz beschränkt, nach blind wirkenden Gesetzen vor sich geht. Ein innerer Widerspruch dieser politischen und juristischen Formen des Privateigentums, die als notwendiges Moment der Waren- und Geldzirkulation vom Staat als Repräsentant des Gemeinwesens durchgesetzt werden, besteht darin, dass sie unter den Bedingungen sich stetig ändernder Produktionsbedingungen und Klassenkämpfe regelmäßig zugunsten partikularer Interessen gebeugt, modifiziert und zeitweise außer Kraft gesetzt werden müssen. Diese Tatsache, die in Verwertungskrisen nationaler Gesamtkapitale verstärkt in Erscheinung tritt, kann Frankfurter Kritiker:innen in ihren Altbauwohnungen im Szenebezirk allerdings schrecken. Ist damit doch auch ihr eigenes „Wohl und Wehe“ bedroht, das an der Illusion hängt, ihre Belange als bloß vorgestellte Bourgeois, die „Sicherheit“ ihres Auskommens und ihrer Lebensgewohnheiten seien vom Staat zu ewigen Einrichtungen des Menschengeschlechts gemacht worden und dürften nur unter ihrer ausdrücklichen Duldung verändert werden.

Mit solcherlei Vorstellungen über den strikten Gegensatz von Staat und Privatsphäre, von Freiheit und Herrschaft, von wahrer Gleichheit unter den Menschen, malen die Wettermacher von Thunder in Paradise die Produkte der bürgerlichen Gesellschaft in idealisierter Gestalt aus, um sie gegen die ungenügende Wirklichkeit in Stellung zu bringen.(1) Ihre konkrete Staatskritik sieht stets nur einzelne Aspekte der gesellschaftlich wirkenden Widersprüche, die unter privatkapitalistischen Produktionsverhältnissen demokratisch ausgehandelt werden. Je nach diskursiver Konjunktur und persönlicher Neigung drängt es sie deshalb mal zur Befürwortung, mal zur Verdammung des Rechts und seiner Durchsetzung durch die Exekutivgewalt. Die rechtssetzende Gewalt durch Behördenvertreter:innen, die immer dort stattfindet, wo die wirkliche Welt sich weigert in Paragraphen vor sich zu gehen und deviante Subjekte dem autoritären Bedürfnis uniformierter Kleinbürger ausgeliefert sind, wird ihr zum Beleg für einen Ausnahmezustand, in dem Gesundheitsamt und bewaffnete Polizei in jeder Sekunde die Wohnzimmer stürmen könnten. Die Freiheit und Gleichheit unter Bedingungen der Konkurrenz zwischen den Kapitalisten und innerhalb der Arbeiter:innenklasse gelten ihr als Freiheit und Gleichheit schlechthin, die dem ebenso unbestimmten Zwang – mal der „souveränen Herrschaft“, mal der „postmodernen Arbeit“ – gegenübertreten. Die Freiheit ist für sie Bürgerrecht und Diktatur des Staats zugleich. So muss der zwischen Utopismus und Liberalismus hin und her geworfene Ideologiekritiker immer wieder bei sich selbst als Einziger mit seinem Eigentum angelangen, einem vulgären Individualanarchismus, der sich „vermittels“ kritischer Theoriebildung in der Ideologie der einfachen Zirkulation verheddert. Wie allen adornitisch geschulten Antiautoritären, die, wenn überhaupt, nur die ersten hundert Seiten des marxschen Kapitals gelesen haben, stellt sich der konkreten Staatskritik die Gesellschaft als Verbund von Einzelindividuen dar, deren Verkehr durch den Warentausch geregelt ist. Das sei – trotz stets drohender negativer Aufhebung des Kapitalverhältnisses – im Grunde eine gute Sache, da die restlos vergesellschafteten Tauschsubjekte in der „klassenlosen Klassengesellschaft“ (Adorno) immerhin ihre bürgerlichen Freiheitsrechte zu Zwecken von „ein bisschen Glück“ verfolgen dürfen.

Jede Veränderung der wirklichen Freiheiten der Privateigentümer:innen, etwa durch die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung eines Virus erscheint der konkreten Staatskritik als Resultat des falschen Willens der Staatselite. Gegen den falschen herrschenden Willen muss der gewohnte Gang in die Kneipe oder ins Theater – letzte Refugien dialektisch aufgeklärter Kritiker:innen in der verwalteten Welt – aufs Messer verteidigt werden.(2) Die Bedingungen der individuellen Freiheit sind jedoch abhängig von der Entwicklung des gesellschaftlichen Reichtums als Kapital innerhalb der ihm entsprechenden historischen Grenzen. Zum Verdruss von Wirt und Kritiker haben diese Grenzen mit der Freiheit zum Kneipenbesuch nur insofern zu tun, als das Gastgewerbe eine Abteilung des gesellschaftlichen Ateliers der Arbeiten bildet, dessen Schließung unter neuen Bedingungen der Pandemie einen rationalen Beitrag zum Fortbestand der Gesellschaft als mehrwertproduktives Ganzes darstellen kann. Die mit der Pandemie notwendig gewordenen Einschränkungen beseitigen weder die Konkurrenz unter den Einzelkapitalen noch ihre spezifischen Produktionsbedingungen, sondern verändern diese temporär im Sinne des Gesamtkapitals. Die Politik der regierenden Charaktermasken ist auch als personale Herrschaft immer eine Durchschnittsherrschaft, die in privatkapitalistisch organisierten Gesellschaften auf demokratischem Wege hergestellt wird. Wie die Einzelkapitale so pressen auch die Individuen in der Konkurrenz aufeinander und erzeugen mit ihrem Gegenstoß immer wieder aufs Neue die Beschränkungen, unter denen ihr Verkehr – ob am Tresen oder im Kunstverein – als frei erscheint.(3) Erst, wenn das Proletariat den Produktionsprozess unter seine bewusste Kontrolle nimmt, fallen ihm mit den Produktivkräften, wie sie sich unter dem Kapitalverhältnis entwickelt haben, die wirklich gesellschaftlichen Beziehungen in ihrer nicht mehr durch das Privateigentum beschränkten Universalität zu. Die ökonomischen Formen, die rechtlichen Beziehungen, welche der kapitalistischen Produktionsweise entsprachen, der politische Zustand, welcher ihr offizieller Ausdruck war, müssen in diesem Prozess zerbrechen. Werden die sich fortwälzenden Widersprüche der bürgerlichen Freiheiten ignoriert, so sind der Phantasie des middle-class-Propheten über die professionellen Sachwalter der negativen Freiheit des Kapitals keine Grenzen gesetzt: Schimpf und Schande über die verkommenen Politiker! Arbeiter, meide das falsche „Produktionsregime“!

Mehr als nur ein „bisschen Glück“ ist es, dass die konkrete Staatkritik dem Publikum erläutert, welches bahnbrechend neue „Produktionsregime“ im zweiten Jahr der Pandemie Einzug gehalten haben soll und wie die dort vor sich gehende Freiheitsberaubung durch den Staat theoretisch einzuholen ist. Auch hier ist es wie eh und je in der antideutschen Szene. Man beruft sich auf Marx und kommunistische Kritik, schafft es aber, wenn‘s „sozioökonomisch“ werden soll, nur zum sozialphilosophisch verbrämten Marxismus der zweiten und dritten Internationale, namentlich zur Monopolkapitalismusthese der frühen Frankfurter Schule. Demnach hätte der mit der Industrialisierung einhergehende Konzentrationsprozess des Kapitals für eine „Liquidation der Zirkulationssphäre“ (Horkheimer) gesorgt. Große Trusts und Monopole könnten seitdem durch ihre Marktmacht die Preise der Waren diktieren. Das Wertgesetz, demzufolge die Preise der Waren im Schnitt und durch die Vermittlungen der Geld- und Warenzirkulation hindurch, ihren Werten entsprechen, sei außer Kraft gesetzt. Die freie Bewegung des Kapitals sei ersetzt worden durch die direkte Verfügungsgewalt der Monopolisten oder staatskapitalistischer Wirtschaftsgruppen. Mit dem Ende der Konkurrenz und des Marktes sei auch die ökonomische Basis der bürgerlichen Politik, des freien Meinungsaustauschs der Privateigentümer, an ihr historisches Ende gekommen. Es gebe kein Bürgertum mehr, das die Geschäfte des Handelskapital verrichtet, keine Kapitalisten, welche lebendige Arbeit aus Profitmotiven anwenden. Die Gesellschaft im Spätkapitalismus werde von Organisationsbossen, Rackets und ökonomisch Nutzlosen bevölkert, die ihr Leben den Konzernen und/oder den Staatsapparaten verdanken. Das Proletariat verwandle sich unter dem Druck der massenmedialen Reklame und der Kulturindustrie in bloße Befehlsempfänger:innen, so dass seine Bedürfnisse von den Interessen der Konzernbosse ununterscheidbar würden. Zur ökonomischen Unterfütterung dieser Thesen erfreuen sich die Anhänger:innen der kritischen Theorie über die Neuherausgabe der Werke von Fritz Pollock. Dessen Theorie vom Staatskapitalismus wird seit Bestehen einmal zum Idealtypus, dann zur Tendenz kapitalistischer Entwicklung überhaupt, schließlich zur adäquaten Erfassung aktueller „Staatlichkeit“ erklärt. Wegen laufender Staatseingriffe herrscht in den westlichen Industriestaaten also stets gerade noch so viel „Kapitalismus“ vor, wie es dem „Kritiker von Staat und Kapital“ in den Publikationsplan passt.

Entsprechend mühen sich auch TiP mit soziologisch informiertem Gerede über diese Staatsform und jenes Produktionsregime mit dem Begriff der Produktionsverhältnisse auch ihren Gegenstand auszutreiben.(4) In der Wirklichkeit jedenfalls werden sie den einseitigen, nur negativen Begriff der Freiheit, wie er sich dem Einzelkapital in der kapitalistischen Konkurrenz aufdrängt, kaum vorfinden. In der Wirklichkeit werden sie nicht entdecken können, dass die Akkumulation des Gesamtkapitals allein durch wachsende Konzentration der Produktionsmittel in einer Hand vonstattengeht. Notwendig ereignet sich auf der anderen Seite des Prozesses auch die Repulsion, also Abstoßung und Zersplitterung bereits vorhandener Kapitale voneinander. Die zunehmende Teilung der Arbeit unter dem Kapital sorgt stetig für neu erschlossene Geschäftsbereiche, der Kredit ermöglicht jederzeit neue Konkurrenz für die großen Kapitale, sofern sich nur willige Glücksritter des Geldkapitals ausfindig machen lassen. In letzter Instanz findet jede ökonomische Tendenz in Richtung der Monopolisierung ihre absolute Schranke am jeweiligen Wachstumsgrad des Gesamtprofits, der als Revenue zwischen Kapitalist:innen, Grundeigentümer:innen und Lohnarbeiter:innen aufgeteilt wird. Eine Aufteilung, die innerhalb der Kapitalistenklasse mal friedlich-schiedlich und mal im Kampf aufs Messer erfolgt. Dass das Monopol kein Ende der kapitalistischen Konkurrenz, sondern eine temporäre Erscheinung derselben bedeutet, womit sich das ganze Gerede vom Ende der Zirkulationssphäre und des Bürgertums erledigt, ist mittlerweile zwar vielfach aufgeschrieben worden, hat die vorgeblichen Marxfreund:innen in der antideutschen Szene allerdings noch nie interessiert. Und so lässt sich auch die konkrete Staatskritik aus Frankfurt von den wirklichen gesellschaftlichen Entwicklungen unter Bedingungen des hergestellten Weltmarkts nicht weiter kirre machen. Mit der tumben Gewissheit, die allen Adepten eigen ist, welche die Sprache, die sie sprechen, nicht verstehen, übertragen die Kritiker:innen von TIP das verkehrte Schema des Staats- und Monopolkapitalismus 1:1 auf die politischen Vorgänge in Deutschland seit Ausbruch der Pandemie. Schließlich hat man in emsiger Diskursforschung herausgefunden, dass der Staat „die Sphäre der Ökonomie“ heute wieder direkt dirigiere, gegen jede ökonomische Vernunft handle und nach dem Fordismus und Postfordismus nun wieder zum Faschismus übergehe.

So viel ökonomische Basis muss reichen, um zum sozialtheoretischen Sermon über die „Untertanen“, die „Heerschaaren Überflüssiger“ zu kommen, ein Gefilde, in dem die herdenscheuen Alphatiere von TIP ihr eigentliches Habitat haben. Auch hier lernen wir durch äußerst eigenwillige Bestimmungen ganz neue Qualitäten des Staates kennen. In der Ära des Fordismus habe er „die Leute“ noch „bei der Stange halten“ müssen. Heute dagegen sei dies nicht mehr nötig. Die kapitalistischen Zentren des Westens seien von ökonomisch Nutzlosen bevölkert, die aus Gründen des Machterhalts und zum Lohn der „Loyalität“ schlechthin betreut werden müssten. Dass man es in westlichen Metropolen nur mehr mit Bullshit-Jobs zu tun hätte, hat vor ein paar Jahren schon ein weitaus offener anarchistisch auftretender Großtheoretiker in Buchform erläutert.(5) Die konkrete Staatskritik aus Frankfurt teilt mit ihm den anarchistischen Produktivkult der sozial nützlichen Arbeit und informiert ihr Publikum beizeiten, welche gesellschaftlichen Arbeiten vor dem freilich sehr nützlichen Urteil ihrer dialektisch aufgeklärten Ratio nicht bestehen können.(6) Weil in den Marketingagenturen und Fortbildungszentren kein Schornstein raucht, niemand Blaumann trägt und keiner den Hammer schwingt, kann es sich für sie nur um ökonomisch unnütze Tätigkeiten handeln. Ihre auch in Frankfurt unübersehbare Existenz erklärt sich die konkrete Staatskritik damit, dass der Souverän die „Untertanen“ einerseits an sich binden und andererseits betreuen müsse. Während er früher dafür sorgte, dass „die Leute“ „bei der Stange gehalten“ werden, bestand im März 2020 die reelle Gefahr, dass ihm selbige „von der Fahne gehen“. Nicht auszudenken, denn seit der Verbannung der „Schweißarbeit“ aus hessischen Metropolen sei er nicht mehr „auf Malocher“, sondern auf „kreativen Konformismus“ angewiesen. Der Diskursterror der Eliten und die staatliche Qualifizierungsoffensive habe mittlerweile „materielle Verhältnisse“ bereitet, in denen „immer mehr Menschen die Sache des Staates zu ihrer eigenen“ machten, und zwar „in direkter Folge“. In noch direkterer Folge wächst der Staatsapparat mitsamt der Herrschaft des Papiers – dies insbesondere zu beobachten in Baden-Württemberg, wo grüne Volkstribune nur darauf warten, „unerbittlich“ gegen Kritiker:innen des Gesundheitsregimes „vorzugehen“. Allerorten also habe die Pandemie nicht etwa die materielle Reproduktion des Gemeinwesens als Voraussetzung für die fortgesetzte Anwendung lebendiger Arbeitskraft für das Kapital bedroht, sondern die pädagogische Geheimagenda des woken Willkürregimes zur Sicherung der allgemeinen „Loyalität“ gegenüber den Staatsapparaten.

Eine absolute Überflüssigkeit von Arbeitskräften gibt es unter kapitalistischen Bedingungen aber ebenso wenig wie einen absoluten Mangel. Die immer weiter voranschreitende Teilung der gesellschaftlichen Arbeit bedingt nicht nur eine Rationalisierung, ein Absterben alter Berufe, sondern auch das Entstehen neuer, hochspezialisierter Arbeitsbereiche.  Der technische Fortschritt der Maschinerie führt zur Zerteilung immer komplexer werdender Arbeitsprozesse in einfache Arbeitsschritte und erfordert zugleich eine zunehmende Fortbildung der Fähigkeiten der Arbeiter:innen, welche diese ausführen müssen. Die tatsächlich gewachsene Industrie des Coachings, der Workshops und Weiterbildungen in den kapitalistisch entwickelten Staaten des Westens ist nicht das Gegenteil der Kapitalakkumulation. Sie stellt vielmehr eine Ergänzung der gesellschaftlichen Produktion dar, um dem strukturellen Mangel an vom Kapital produktiv anwendbaren Arbeitskräften in Anbetracht des demografischen Wandels mit einer gesteigerten Ausbildung und höheren Mobilität der vorhandenen Arbeitskräfte zwischen den Produktionszweigen entgegenzuwirken. Den Ideologiekritiker:innen erscheinen die Träger:innen dieser zusätzlichen Bildungsprozesse, die eine Masse an Proletarisierten in entwickelten Industriestaaten nun durchmachen müssen, als überflüssig und nutzlos, weil sie sich den Proleten nur mit Schiebermütze und Blaumann, d.h. als Teil des unmittelbaren Produktionsprozesses vorstellen können. Deswegen halten sie die veränderten Bedingungen der industriellen Arbeit im Weltmaßstab, das Verschwinden früherer Arbeitsweisen und das Wachstum der immateriellen Arbeiten für das Ende der produktiven Arbeit hierzulande. Nichts falscher als das! Die unter dem Kommando des Kapitals verrichteten Arbeiten werden nicht durch die Unterscheidung von Kopf- und Handarbeit, überhaupt nicht durch ihren stofflichen Inhalt produktiv. Sie sind produktiv, sofern sie gesellschaftlicher Teil der Akkumulation des Kapitals sind: Indem die lebendige Arbeitskraft unmittelbar im Produktionsprozess oder in der mehrwertrealisierenden Zirkulation, im Handel und in den Banken, angewendet wird, oder ob sie in der staatlichen und privaten Fortbildung der Arbeiter:innen verausgabt wird.  In jedem dieser Fälle geht die verrichtete Arbeit in die Neubildung des Gesamtkapitals auf höherer Stufenleiter ein. Die für ihre Verausgabung gezahlten Löhne bilden einen Abzug vom Gesamtmehrwert, der den einzelnen Kapitalist:innen in unterschiedlicher Höhe zufällt. Wenn aus Erziehung, Ausbildung und Weiterbildung der Arbeitskräfte nicht unmittelbar Mehrwert herausgepresst wird, so werden diese Arbeiten dort produktiv, wo sie dem Kapital die Arbeitskräfte zur Verfügung stellen, die es je nach den bestehenden gesellschaftlichen Produktionsbedingungen vor Ort für seine Reproduktion benötigt.

Entsprechend ihre weitere Suada an aufgeregten Stilblüten, über den Verfall des „bürgerlichen Subjekts“:  Die Verlautbarungen des Staates über die Hygienevorschriften im öffentlichen Raum seien „kultische Selbstdarstellungen seiner Souveränität“, der die Untertanen als uniform maskierte Zelebranten teilhaftig werden. Im Übrigen „stützt“ das „zirkulierende Herrschaftswissen“ in Deutschland „dabei die Macht“ und „stiftet jenen Kastengeist der tonangebenden Experten.“ Es spukt also gewaltig im Irrenhaus der Bundesrepublik, dessen degenerierte Gesamtratio es dann aber auch im Jahr 2021 noch zum viertgrößten BIP der Welt geschafft hat. Möglicherweise hat hier das „Bündnis von Macht und Wissenschaft“ als Zirkulationsbeschleuniger des „Herrschaftswissens“ geholfen. Denn dieses ruhe „auf dem Akkumulations- und Innovationszwang der kapitalistischen Produktion auf [!], das einmal tatsächlich [!] zur Emanzipation von Naturwüchsigkeit verhalf“. Leider, so will man ergänzen, war damit spätestens mit dem Nationalsozialismus Schluss, seitdem die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte für die Emanzipation von der Naturwüchsigkeit freilich keine Rolle mehr spielt. So sprachen die durch dreifache Impfung gegen das Virus geschützten Kritiker mit Donnerhall. Wie Adorno und Horkheimer unter dem schlechten Einfluss des Marxismus die Produktivkraftentwicklung ausschließlich positiv bewerteten und nach der Erfahrung der Shoa nur mehr als negative Entwicklung der Herrschaft durch die Vernunft begreifen konnten, so will die konkrete Staatskritik in vorgeblicher Treue zur Dialektik der Aufklärung die bürgerliche Wissenschaft in Bausch und Bogen nur ihrer eigenen Vernunftbegabung anvertrauen. In ihrem kritizistischem Furor über die allgemeine Verderbtheit der Expert:innen sehen sie nicht, dass nicht nur die Bedingungen zur Verbreitung eines pandemischen Virus noch nie in der Gattungsgeschichte so gut entwickelt waren wie heute, sondern ebenso sehr die Möglichkeiten zu seiner Bekämpfung. Es war das „Herrschaftswissen“ von tausenden miteinander vernetzten Wissenschaftler:innen, das nicht nur für massenhaft einsetzbare Tests, sondern in weniger als einem Jahr auch für mehrere hochwirksame Impfstoffe gesorgt hat.

Dass die Wissenschaften, überhaupt sämtliche Arbeitsvermögen des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters und die stofflichen Elemente der Produktion nur zwei Seiten der gesellschaftlichen Produktivkräfte sind, die wo immer möglich als Privateigentum zu Zwecken der Kapitalverwertung verwendet werden, ficht den Ideologiekritiker nicht an. Er macht im Widerstand gegen den autoritären Missbrauch des frei flottierenden Wissens durch den Technokratenstaat. Er beklagt die nicht eingehaltenen „Versprechen der postmodernen Arbeit“. Er spreizt sich heldenmutig ein für Currywurst und Polenböller und betätigt sich als Klimaschützer für das natürliche Biotop der „Malocher“. Als letzter wahrer Menschenfreund stemmt er sich gegen den praktizierten Irrsinn der degenerierten Subjekte, die „sich schon lange im Grunde nicht leiden können“. Auf der anderen Seite schweigt er sich aus über den heute erreichten Grad der Kooperation und Vernetzung der Arbeitenden aller Produktionsbereiche, die sich in der Konkurrenz ebenso naturwüchsig bildet wie ihre Zersplitterung. Überhaupt hat er vom gesellschaftlichen Charakter aller Arbeiten unter dem Kapital keinerlei Vorstellung, weshalb er als nebenberuflich Vortragsreisender in schöner Regelmäßigkeit mit der Frage hausieren gehen kann, wo das Proletariat denn nun geblieben sei. Die bewusste Anwendung der Wissenschaften interessiert ihn nur, wo er ihre Produkte als konservativer Kulturkritiker im Sinne vergangener Wahrhaftigkeiten denunzieren kann. Über ihren konkreten Nutzen als Produktivkraft im Übergang in eine wirklich vernünftige Produktionsweise, in welcher das gesellschaftliche Individuum neben den Produktionsprozess tritt, statt weiterhin sein Hauptagent zu sein, will der Ideologiekritiker nichts wissen.

Der Widerspruch zwischen den stofflichen Notwendigkeiten der gesellschaftlichen Reproduktion unter Bedingungen einer global stockenden Kapitalakkumulation und den in der Verwertungskrise verstärkt geführten Klassenkämpfen um die relativ sinkende Profitmasse interessiert den Ideologiekritiker nicht. Ihn interessieren die diskursiven Resultate dieses Widerspruchs, die gesellschaftliche Polarisierung in Funk und Fernsehen, aus der er das Material für seine „Kritik“ drechselt. Gender-Gaga, Klimawandel, Pandemie – wo immer er kann, fordert er tapfer die Wiederherstellung überkommener Verkehrsformen. Dies ist sein politisches Geschäft, die trübe Quelle seines Verdrusses und seiner Freuden. Er delektiert sich am „Spott“ über krankhaft konformistische Geistesarbeiter. Er entsetzt sich über den „Jargon“, in dem „Corona-Leugner“ Chiffre für den neuen Volksfeind sei, nur um den eigenen Jargon anzuempfehlen, nach dem „Corona-Mitläufer“ als Ausdruck antifaschistischen Spracherhalts gilt. Macht er sich an der Sprache zu schaffen, so kommt er stets bei der vorausgesetzten Behauptung hinaus, dass nicht die Bedürfnisse und Genüsse unter veränderten Bedingungen der kapitalistischen Produktion Veränderungen erfahren, mithin in ideologischen Widerstreit geraten, sondern dass die Individualität schlechthin zuschanden komme. Dies sind die „materiellen Verhältnisse“ der Meinungsdiktatur, welche die linksgrünversifften Diskurstäter angeblich herbeigeredet haben. In diesen Verhältnissen gibt es für „schwer“ ideologiekritische Privatleute keine roten Linien mehr, wenn es darum geht, noch den letzten Diskurs-Unrat für ihr gelangweiltes Szenetreiben auszubeuten.


II.

So wie es „keine neue Sonne unter dem Kapital“ gibt, so herrscht auch im politischen Geschäft der Ideologiekritik die immer gleiche Langeweile. Tag für Tag treiben sie sich herum in der faktischen Welt des Scheins und nehmen die ideologischen Resultate der notwendig in Widersprüchen vor sich gehenden Entwicklung des Kapitals für die Sache selbst. Weil die empörte Floskel in den Social Media so leicht von der Hand geht und von der regelmäßig gesäuberten Bubble mit Likes goutiert wird, folgt eine trotzige Stellungnahme gegen den Niedergang von Vernunft und Sitte, den Zerfall des bürgerlichen Subjekts oder die allgemeine Zivilisationsmüdigkeit der nächsten. Genüsslich werden jene mit Hohn und Verachtung gestraft, die erzwungenermaßen an den Veränderungen der Verkehrsformen der kapitalistischen Gesellschaft teilnehmen, so auch während der Coronapandemie.

Das Tragen von Schutzmasken, Abstandsgebote und die mal mehr, mal weniger absurden Hygieneregeln sind nicht nur Zwangsregeln des kapitalistischen Staates, sondern zuerst wirksame Methoden gegen die Verbreitung eines pandemischen Virus. Es sind neue Notwendigkeiten der allgemeinen Gesundheitsvorsorge und damit des sozialen Verkehrs überhaupt, in einer Welt, in der die Arbeiten aller Klassenindividuen immer enger miteinander verflochten sind und die physischen Kontakte untereinander in höherer Schlagzahl stattfinden. Anstatt sich über die sozialen und politischen Konsequenzen des wachsenden stofflichen Zusammenhangs unter den Proletarisierten aller Kontinente Gedanken zu machen, denunzieren die frei flottierenden Kritiker:innen der zerfallenen Bahamas-Redaktion mittlerweile jedwede Beschäftigung mit der vom Virus ausgehenden Gefahren für das eigene Leben und das der Mitmenschen als überflüssig, infantil, rundum als eine Sache für Verrücktgewordene und professionelle Lügner. Ihre Lösung besteht in der vermeintlichen Weisheit, dass man die Krankenhauskapazitäten eben höher hätte halten sollen. So könne jede Warenmonade selbst entscheiden, wie sie es mit dem Virus hält. In aller Freiheit dürfen gerne Tausende an Corona verrecken, solange nur Platz in den Krankenhäusern gehalten wird. Eine alberne Boomer-Phantasie vom allmächtigen Sozialstaat, der kraftstrotzenden Privatleuten die benötigte soziale Infrastruktur für deren asoziale Willkür zur Verfügung hält.

Weil der Staat aber nicht tut, was die Ideologiekritik und Sarah Wagenknecht ihm anempfehlen, so muss er in Geiselhaft genommen worden sein von einer arrogant auftrumpfenden Meinungselite, gegen die der kleine Mann im Betrieb und auf der Straße verteidigt werden muss. Der Nationalstaat mit seinen Grenzen, kürzlich noch als Organ der sozialen Sicherheit gegen Islamisierung und kulturellen Globalismus ausgerufen, hat in der Pandemie die Reise- und Bewegungsfreiheit der Falschen eingeschränkt. Das realpolitische Schwanken zwischen Bourgeoisiesozialismus und libertärer Apologetik, das für die antideutsche Szenetypisch ist, wiederholt sich in deren Äußerungen zu den Coronaprotesten und wird auch die schon absehbaren Invektiven gegen die Klimapolitik ausmachen. Auch hier werden sich unter dem notwendig stattfindenden Ausbau neuer Energiequellen nicht nur Berufsbilder ändern, sondern auch die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen die alltägliche Konkurrenz der Proletarisierten untereinander stattfindet.

Die ökonomischen Umwälzungen, die in allen kapitalistischen Nationen auf besondere Weise vor sich gehen, wurden von der Corona-Pandemie beschleunigt. Die nachholende Anpassung der gesellschaftlichen Verkehrsverhältnisse an die neuen Erfordernisse der Produktion müssen die Prolet:innen ebenso wie die Kapitalist:innen auf unterschiedliche Weise nachvollziehen. Die Einen werden durch die Veränderung der alltäglichen Anforderungen und der entsprechenden Erweiterung der Bedürfnisse, der gewohnten Lebensführung und ideologischen Überzeugungen zur weiteren Entfaltung ihrer individuellen Anlagen getrieben. Bei Anderen machen sich berechtigte Ängste breit. Der Verlust von Einkommen, der drohende Klassenabstieg und die massive Einschränkung des gewohnten zwischenmenschlichen Kontakts treiben schon seit dem Frühjahr 2020 linke wie rechte Vertreter:innen des Kleinbürgertums, der Selbstständigen und Künstler:innen auf die Straße. Zuvor schon vorhandene diffuse Überzeugungen gewinnen an Eindeutigkeit und überschreiten bei Manchen die Grenze zum Wahn. Zusammen mit Esoteriker:innen und Öko-Aktivist:innen, Friedensfreund:innen, Neonazis und Impfgegner:innen werden sie laut und legen sich immer häufiger mit der Polizei an.

Wer diese Querfront zum wahrhaft bürgerlichen Widerstand gegen ein real gewordenes Notstandsregime erklärt, spielt bewusst auf das Ermächtigungsgesetz der nationalsozialistischen Regierung von 1933 an. Anstatt die Spaziergänger:innen als mündige Individuen zu behandeln und ihre Irrtümer aufzuklären, bestärken die Ideologiekritiker:innen die verkehrten ideologischen Auswege der zurecht Verzweifelten aller Klassen, die durch die Krise in Bedrängnis geraten sind. Sie verdunkeln das Bewusstsein von der Geschichte noch zusätzlich, das den gesellschaftlichen Individuen auch in verkehrten und irrationalen Formen zukommt.(7) Sie beuten deren Orientierungslosigkeit aus für ihr politisches Geschäft. Dabei überschneiden sich ihre realpolitischen Ziele mit denen des Wagenknecht-Flügels in der Linkspartei. Als linksintellektuell auftretender Teil der Coronaproteste betätigen sie sich faktisch als Multiplikatoren der staatssozialistischen Kampagne, welche mit der Überführung der Produktionsmittel in Staatseigentum die ökonomische und politische Herrschaft über alle Klassen anstrebt und die erreichten Freiheiten der Proletarisierten von unvermittelter Herrschaft zurücknehmen will. Ihr populistisches Geblök gegen staatliche Bevormundung und gegen die schweigende Mehrheit von Mitläufern im imaginierten Gesundheits-, bald Klima-Faschismus unter einer Junta abgefeimter Gutmenschen dient faktisch der Zersetzung der politischen Macht des Westens. Die von der Ideologiekritik betriebene Zuspitzung der ideologischen Widersprüche bereitet den Diensten der kapitalistischen Despotien in Russland und China verbesserte Bedingungen zur Erfüllung ihrer hiesigen Aufgaben. Den Produkten der deutschen Organe der russischen und chinesischen Desinformation- und Zersetzungskampagne (Compact-Magazin, RT-Deutsch, Nuoviso, Reitschuster, etc.) stellt sie seit kurzem eigene Heftchen und Podcasts für Antideutsche und andere Linksradikale zur Seite. Gleichzeitig treibt es die prominenten Vertreter:innen der antideutschen Ideologiekritik hin zu neuen Bündnissen mit bakunistischen Dunkelmännern aus dem Umkreis des Unsichtbaren Komitees oder den notorischen Kretins von der Achse des Guten.

Ihr andauerndes Lamento über den Verfall des bürgerlichen Subjekts soll dabei den in der Corona-Krise beschleunigten Verfall der antideutschen Szene um ihr früheres Zentralorgan übertönen. Vertrat die Redaktion Bahamas einmal den richtigen Anspruch, eine Zeitschrift gegen ihr eigenes Publikum zu sein, so tut sie heute nichts weiter als Gefolgschaft zu bilden und diese durch seichte Unterhaltung und quartalsmäßige Feinderklärungen an sich zu binden. Alte und neue Redaktionsmitglieder sind heute mehr oder minder auf eigene Rechnung unterwegs und geben in den sozialen Medien die Influencer:innen für eine nachwachsende Subszene aus akademisierenden Claqueuren und intellektuell überforderten Instagram-Girls. Von diesen werden sie für Vorträge, Zeitschriftenbeiträge und Podcasts gebucht, so dass genug Being-together-Pics von sogenannten Konferenzen oder aus deutschen Bierkneipen für die sozialen Netzwerke fabriziert werden können. David S. zum Anfassen und Magnus K. zum Knuddeln. Anders als im Popmusik-Business tun sich Stars und Fans in Assoziationen mit politischem Anspruch gegenseitig jedoch selten gut. In einem Umfeld aus erfahrenen Politmackern und eilfertigen weil unbegabten Herdentieren gibt es keinen substantiellen Widerspruch, d.h. keinen wirklichen Fortschritt. In ihren Diskussionsrunden geht es zu wie bei Anne Will: Meinung reiht sich an Meinung, Kommentar an Kommentar, Behauptung an Behauptung, ohne dass diese zu einer Analyse hinreichend mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Beziehung gesetzt werden. Fragen zum Gegenstand, Beobachtungen des Alltagslebens, die über die Bestätigung des vorher bereits feststehenden Urteils hinaus gemacht werden könnten, finden nicht statt. Kein Gedanke wird zu Ende gedacht, sondern endet an der nächsten Polemik-Punchline, die nicht dem Gegenstand, sondern den heruntergekommenen Bedürfnissen nach Szene-Gossip und Hahnenkämpfen entspricht.

Die Beschwörung einer von verschiedenen Klassen getragenen faschistischen Tendenz in Deutschland stellt einen Versuch dar, die eigene Relevanz als Lehrmeister nach Ausschwitz zu sichern. So wie die Ideologiekritik das Proletariat nur mit Blaumann und Schiebermütze kennt, kennt es den Faschismus nur als deutsche Spezialität. So schwadroniert sie von „Volksgemeinschaft“ und „neuen Volksfeinden“, wo – von wenigen Regionen abgesehen – in Wirklichkeit keinerlei völkische Formierung auszumachen ist. Im Gegenteil: in den zwei Jahren der Pandemie konnte kein:e deutsche Politiker:in mit rassistischen Parolen gegen ausländische Sündenböcke verfangen, kaum eine:r hat es überhaupt versucht.(8) Es gab gehäufte rassistische Übergriffe auf asiatisch aussehende Menschen in den westlichen Demokratien. Doch nirgends kam es zu pogromartigen Ausschreitungen gegen vorgebliche Verursacher:innen der Gesundheitskrise. Nirgends kam es zu einer Ausschaltung der Gewaltenteilung, zu einer dauerhaften Notstandsgesetzgebung oder gar zur Einschränkung der öffentlichen Meinungsbekundung. Entgegen unseren Erwartungen konnten auch die bourgeoissozialistische Linkspartei und die faschistoide AfD keinen politischen Nutzen aus der bisherigen Krise ziehen, sondern haben im Gegenteil, bei der letzten Bundestagswahl bedeutend an Stimmen verloren.(9)

Unterdessen haben die bürgerlichen Institutionen in der kapitalistisch fortgeschrittensten Nation, den Vereinigten Staaten von Amerika, unter Beweis gestellt, dass sie eine mit gesammelter Finanz- und Medienmacht Trumps und seiner Russland-Connection torpedierte demokratische Wahl durchführen und das richterlich mehrfach überprüfte Endergebnis auch gegen reaktionär verhetzte Kleinbürger:innen und faschistische Capitol-Stürmer:innen verteidigen können. Auch wenn die faschistische Gefahr in den Vereinigten Staaten, die von der Bewegung um den russischen Agenten Trump ausgeht, noch keineswegs gebannt ist: Zu keinem Zeitpunkt stand infrage, dass das Militär seinen Verfassungsauftrag nicht auch gegen die Präsidialgewalt wahrnehmen würde. Ohne massive Verschiebungen in der Klassenzusammensetzung des US-Militärs und der zentralstaatlichen Apparate konnte der geordnete Verlauf des politischen Geschäfts der führenden privatkapitalistischen Nation kaum wirklich erschüttert werden.

Allerdings konnte die von Proletarisierten aller Hautfarben initiierte, antirassistische Bewegung zu Beginn der Pandemie ideologische Siege erringen, die auf kurz oder lang weitere Anpassungen der gesellschaftlichen Verkehrsformen in Bezug auf den fortbestehenden Rassismus in den USA bedeuten und die auch in weiteren liberaldemokratischen Staaten in eigenen Varianten nachvollzogen werden müssen. Ähnliche Erfolge durch massenhafte Mobilisierungen in der durch Smartphones in Echtzeit hergestellten Weltöffentlichkeit lassen sich für die feministische Bewegung im globalen Maßstab feststellen, so in Argentinien, Mexiko und Chile. Und auch dort, wo die Coronakrise von den herrschenden Regimen zu massiven Repressionsschlägen gegen die Demokratiebewegungen Anlass genutzt wurde – im Libanon und im Irak, in Hong Kong und in Belarus – wurde ein neues politisches Begehren für die Demokratie und Menschenrechte sichtbar, dessen langfristige Auswirkungen ungewiss sind, das aber weder durch Dekrete noch durch Polizeiknüppel wieder aus der Welt zu schaffen ist. Von all diesen mit der Pandemie beschleunigten Entwicklungen kann das globale Proletariat hinsichtlich der Bedingungen sich zu organisieren, sich zu bilden, die eigenen Bedürfnisse und Fähigkeiten zu entwickeln, profitieren. Es kann aber auch verlieren, insofern sich bisherige Entwicklungen in ihr Gegenteil verkehren. Es ist nicht abzusehen, welche der bestehenden politischen Tendenzen sich durchsetzen wird, noch, welche Auswirkungen die laufende ökonomische Krise auf die zwischen Gewerkschaften, Staat und Kapitalist:innen ausgehandelten Arbeitsbedingungen der Lohnarbeiter:innen nehmen wird.

Statt sich mit solchen wirklichen Problemen von kommunistischem Belang zu befassen, hat sich die Ideologiekritik seit März 2020 entweder restlos maulfaul gehalten, oder aber sich auf die reaktionäre Seite des bürgerlichen Geschwätzes geschlagen, sei es mit Lobhudeleien auf die Proud Boys und Harvey Weinstein, mit Gesinnungsaufsätzen gegen das Gender-Gaga im neuen Star Wars-Film oder mit trotzigen Unkenrufen gegen den Globalismus. Je nach Meinungskonjunktur wird sie sich auch weiterhin an den Rockzipfel einer Sarah Wagenknecht oder Beatrix von Storch hängen und in den Social-Media jene Bubble füttern, welche nicht nur heimlich mit dem Despotismus des starken Mannes aus Moskau liebäugelt. Kein Sterbenswort haben die Herren und Damen Kritiker:innen der Meinungsdiktatur verloren, als Lukashenkos Sicherheitsbehörden die Demokratiebewegung in Belarus niedergeknüppelt, weggesperrt und verschwinden hat lassen. Als der Diktator tausende aus dem Irak und Afghanistan Geflüchtete bei Eiseskälte in die Wälder an der Westgrenze getrieben hat, um die Europäische Union zu destabilisieren, kam ihnen nicht mehr in den Sinn als Stammtischparolen gegen muslimische „Messermänner“. Ein ums andere Mal schweigen sie zur militärischen Kampagne des russischen Geheimdienst- und Oligarchenstaats, der überall, wo er kann, die reaktionärsten Kräfte nutzt, um seine liberaldemokratischen Gegner:innen zu schwächen. Während die kapitalistischen Despotien in China und Russland die Akkumulation ihrer nationalen Gesamtkapitale auf autoritärem Wege und gegen die demokratischen Ansprüche der Bevölkerung in ihrem Einflussgebiet durchsetzen, treibt sich die ideologiekritische Szene ausschließlich in der Welt des deutschen Feuilleton und der Yellow Press herum, um sich über Stilfragen der demokratischen Aushandlungsprozesse deutscher Innenpolitik zu empören und dies als antifaschistischen Widerstand auszugeben.

Es ist nicht falsch, dass sich TiP um das faschistische Potenzial in Deutschland Sorgen macht. Das ist nie verkehrt und zumal unter Deutschen sinnvoll. Nur wäre sie dabei gut beraten, sich die wirklichen, heute im Gang befindlichen Entwicklungen unter den Auswirkungen der Virus-Pandemie anzusehen, die auf eine autoritäre Krisenlösung in westlichen Gesellschaften hindeuten. Ein paar Regierungspapiere, ewigdoofe Talkrunden und Zeit-Artikel, für die sich vielleicht das gebildete Drittel der Gesellschaft ernsthaft interessieren, reichen dafür einfach nicht hin. Für die Vortragsreihe und für’s Thesen Entfalten aber wird‘s genügen. Die Anhängerschaft schaut da nicht so genau hin und ist froh um jedes Geblök, das ihre eigenen antisozialen Gefühle affiziert und ihr kreuzbürgerlichen Ressentiments zur Kritik „aufmotzt“. Jetzt, wo es in der Krise brennt und auch die internationalen Auseinandersetzungen der nationalen Bourgeoisien untereinander heißer werden, können herdenscheue Alphamännchen, die sich für dergleichen nicht interessieren, unter „materialistisch“ informiertem Getöse weiterhin nur das tun, was sie während der jahrelangen Verfolgung ihrer Privatinteressen in der linken Szene gelernt haben: Das Publikum zu Meinungsempfängern degradieren und den unter Corona beschleunigten Verfallsprozess der Antideutschen nach Kräften befördern.

proletarische passagen am 24.01.2022

Endnoten:


1.

„Was diese Sozialisten von den bürgerlichen Apologeten unterscheidet, ist auf der einen Seite das Gefühl der Widersprüche des Systems, anderseits der Utopismus, den notwendigen Unterschied zwischen der realen und der idealen Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu begreifen, und daher das überflüssige Geschäft zu übernehmen, den idealen Ausdruck, das verklärte und von der Wirklichkeit selbst als solches aus sich geworfne reflektierte Lichtbild, selbst wieder verwirklichen zu wollen.“ (Marx, Grundrisse, S. 916)

2.

„Nicht der Staat besteht also durch den herrschenden Willen, sondern der aus der materiellen Lebensweise der Individuen hervorgehende Staat hat auch die Gestalt des herrschenden Willens. Verliert dieser die Herrschaft, so hat sich nicht nur der Wille, sondern auch das materielle Dasein und Leben der Individuen, und bloß deswegen ihr Wille, verändert. MEW 3, S. 312

3.

„Diese Art individueller Freiheit ist daher zugleich die völligste Aufhebung aller individuellen Freiheit und die völlige Unterjochung der Individualität unter gesellschaftliche Bedingungen, die die Form von sachlichen Mächten, ja von übermächtigen Sachen – von den sich beziehenden Individuen selbst unabhängigen Sachen – annehmen.“ Marx, Grundrisse, S. 545

4.

Das klingt dann so: „Zwar bringt der Staat seine wohlfahrtsstaatlichen Verantwortlichkeiten zum Verschwinden, doch geschieht dies gleichzeitig mit der Ausweitung und Intensivierung von Betreuungs- und Kontrollprozeduren, die darauf setzen, die Ware Arbeitskraft an die Erfordernisse der globalen Konkurrenz und die Umlaufgeschwindigkeit des Kapitals anzupassen und die gesamte Bevölkerung durch die kontinuierliche »Transformation und Rekonfiguration kapitalistischer Wohlfahrtsstaatlichkeit« so einzutakten, dass sie lenkbar bleibt.“ So weit, so gelenk. Wer sich nun fragt, warum die staatliche Lenkbarkeitsmaschine die Arbeitskraft solchermaßen eintakten sollte, erfährt in der Fußnote: „Eine Dynamik, die unter dem Druck globaler Konkurrenz und der Machtverlagerung zugunsten des Kapitals prozessiert, das territorial und räumlich weniger gebunden ist und so dem einzelnen Staat mit Leichtigkeit Zugeständnisse abringen kann. Die durch den gesundheitspolitischen Ausnahmezustand bedingte punktuelle Stillstellung bzw. Verlangsamung globaler Verkehrsströme sowie die zeitweise Unbrauchbarkeit transnationaler Institutionen und Akteure ließ den Staat während der zurückliegenden Monate als politisches Regulationsorgan wiedererstarken, was seine Protagonisten offenkundig genossen. Zur »humankapitalzentrierten Sozialpolitik« vgl. Roland Atzmüller: Krisenbearbeitung durch Subjektivierung, Münster 2019. (TiP)“; Solcherlei Genüsse sind dem anarchistischen Asketen, der sich die ihm zustehende gesellschaftliche Macht versagt, freilich ein Dorn im Auge. Mit strengem Blick wacht er über die „Machtverlagerungen“ zwischen Staat und Kapital und schlägt Alarm, wenn wohlfahrtsstaatliche Verantwortlichkeiten rekonfiguriert werden.

5.

„Nurses, garbage collectors, mechanics, it’s obvious, were they to vanish, results would be catastrophic…. A world without teachers or dock-workers would soon be in trouble…. It’s not clear how humanity would suffer were all private equity CEOs, lobbyists, PR researchers, actuaries, telemarketers, bailiffsor legal consultants to similarly vanish…. Real productive workers are squeezed and exploited. The remainder are unemployed and a larger stratum paid to do nothing.“(David Graeber, On the Phenomenon of Bullshit Jobs, 2013)

6.

Ihre fixe Idee vom Verschwinden der industriellen Arbeiten in die „Peripherie“ wird sich TIP auch nicht von der zuletzt absolut gestiegenen Beschäftigung in der Industrie – bspw. in Bergbau und verarbeitendem Gewerbe hierzulande – nehmen lassen: https://www.deutschlandinzahlen.de/tab/bundeslaender/branchen-unternehmen/industrie/beschaeftigte-in-der-industrie

7.

In einem Land, in dem sechs Millionen Jüd:innen vergast wurden, in dem mit der Aktion T4 Menschen mit Behinderung vernichtet wurden, in dem die Ärzteschaft in Konzentrationslagern grausame Menschenversuche veranstaltet hat, ist es keine bloß private Schrulle von deklassierten Dummköpfen, vor einem neuen 1933 Angst zu haben und auf ihren Bürgerrechten zu beharren, wo sie diese in Gefahr sehen. Die Angst vor der Medizin, welche die Verletzlichkeit der eigenen Natur vor Augen führt, verleiht den losen Assoziationen zum Nationalsozialismus zusätzliche psychische Energie, die sich unter Anleitung der Geschäftemacher im Verschwörungs- und Politbusiness zu einem System ausbildet. Adorno hat diese Dynamik so beschrieben: „Die auffällige Affinität eines Bewußtseinsstandes wie der Halbbildung zu unbewußten, psychotischen Prozessen wäre aber rätselhafte, prästabilierte Harmonie, hätten nicht die Wahnsysteme, außer ihrem Stellenwert in der psychologischen Ökonomie des Einzelnen, auch ihre objektive gesellschaftliche Funktion. Sie ersetzen jene wesentliche Einsicht, die von der Halbbildung versperrt wird. Wer der Kontinuität von Urteil und Erfahrung enträt, wird von solchen Systemen mit Schemata zur Bewältigung der Realität beliefert, welche an diese zwar nicht heranreichen, aber die Angst vorm Unbegriffenen kompensieren. Die Konsumenten psychotischer Fertigfabrikate fühlen sich dabei gedeckt von all den ebenso Isolierten, die in ihrer Isoliertheit, unter radikaler gesellschaftlicher Entfremdung, durch den gemeinsamen Wahn verbunden sind. Die narzißtische Gratifikation, im Geheimnis zu sein und mit anderen Erlesenen einig, befreit, sobald es über die nächsten Interessen hinausgeht, von der Realitätsprüfung, an welcher das Ich alten Stils, laut Freud, seine vornehmste Aufgabe hatte. Die wahnhaften Systeme der Halbbildung sind der Kurzschluß in Permanenz. […] Halbbildung ist defensiv; sie weicht den Berührungen aus, die etwas von ihrer Fragwürdigkeit zutage fördern könnten. Nicht Komplexität, sondern Entfremdung schafft die psychotischen Formen der Reaktion auf Gesellschaftliches: Psychose selbst ist die von Subjekt bis ins Innerste zugeeignete objektive Entfremdung. Die kollektiven Wahnsysteme der Halbbildung vereinen das Unvereinbare: sie sprechen die Entfremdung aus, sanktionieren sie als sei es wie immer auch finsteres Geheimnis und bringen sie scheinhaft nahe, trügende Ersatzerfahrung anstelle der zerfallenen. Dem Halbgebildeten verzaubert alles Mittelbare sich in Unmittelbarkeit, noch das übermächtige Ferne. Daher die Tendenz zur Personalisierung: objektive Verhältnissewerden einzelnen Personen zur Last geschrieben oder von einzelnen Personen das Heil erwartet. Ihr wahnhafter Kult schreitet mit der Depersonalisierung der Welt fort. Andererseits kennt Halbbildung, als entfremdetes Bewußtsein, wiederum kein unmittelbares Verhältnis zu irgend etwas, sondern ist stets fixiert an die Vorstellungen, welche sie an die Sache heranbringt. Ihre Haltung ist die des takingsomethingforgranted; ihr Tonfall bekundet unablässig ein „Wie, das wissen Sie nicht“, zumal bei den wildesten Konjekturen.“ Theodor W. Adorno, Theorie der Halbbildung (1959), S. 187-188.

8.

Allein der Tölpel Armin Laschet musste im Sommer 2020 von seinem Satz „Das sagt darüber überhaupt nichts aus, weil Rumänen und Bulgaren da eingereist sind und da der Virus herkommt. Das wird überall passieren.“ zurückrudern. Nur einen Tag später, am 18. Juni 2020, erklärte er: „Menschen gleich welcher Herkunft irgendeine Schuld am Virus zu geben, verbietet sich. Mir ist wichtig klarzumachen, dass das für mich wie für die gesamte Landesregierung selbstverständlich ist.“ Er erklärte weiter, dass„die Arbeitsbedingungen und die Unterbringung der Menschen dazu beigetragen haben, dass sich dasCoronavirus unter den Mitarbeitern des Schlachtbetriebs in Gütersloh derart ausbreiten konnte“.https://www1.wdr.de/nachrichten/themen/coronavirus/maas-kritik-laschet-100.html

9.

Corona Collision

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