Fünf Thesen zur aktuellen „Black Lives matter“ – Bewegung:
1. These: Die antirassistische Bewegung als ideologischer Ausdruck der multikulturellen Gesellschaft ist ein Ergebnis der permanenten Ausweitung und Beschleunigung der gesellschaftlichen Bewegungen des Kapitals.
Vom tendenziellen Fall der allgemeinen Profitrate, dem Zwang zur permanenten Plusmacherei getrieben, vergrößert das Kapital unablässig den Kreis der voneinander unterschiedenen Arbeiten, weitet den Zirkel der Konsumtion aus und setzt immer größere Massen an Proletarisierten weltweit in Bewegung und damit in zusätzlichen Kontakt von einander. Einerseits werden die Proletarisierten zunehmend vereinzelt, durch die sich steigernde Arbeitsteilung. Die Einseitigkeit der unterschiedlichen Arbeiten die sie verrichten müssen, entfremdet sie vom Produkt ihrer Arbeit und untereinander. Andererseits kommen sie sich täglich näher aufgrund der sich rasant entwickelnden Kommunikationsmittel sowie der zunehmenden Mobilität und erzwungenen Flexibilität der Individuen, der Ware Arbeitskraft selbst. Das Kapital hetzt das Proletariat aus der lokalen Borniertheit überholter Lebensweisen über alle nationalen und kulturellen Schranken hinweg: Enteignete ländlicher Regionen, verarmte Bauern und Wanderarbeiter, die die Elendsquartiere der Städte füllen, ebenso wie die relativ saturierten „Leistungsträgerinnen“ und „Spitzenkräfte“ der prosperierenden Zentren, die ein Leben als privilegierte Lohnarbeits-Nomaden und den regelmäßigen Wechsel des Wohnorts als normal akzeptieren müssen. Eigeninitiative, Kontaktfreudigkeit, die Bereitschaft zum Erlernen neuer Sprachen sowie das Ertragen der realen Unterschiede zwischen den Races, sind die wichtigsten Tugenden eines sich ausdehnenden Weltmarkts, die die Proletarisierten unter Strafe des eigenen Untergangs zu verinnerlichen haben.
Das Erlernen derjenigen Fähigkeiten, die nötig sind, um auf dem Arbeitsmarkt einer multikulturellen Gesellschaft zu bestehen, affiziert Bedürfnisse zur erweiterten, möglichst universellen Anwendung eben dieser Fähigkeiten. Das Beisammensein mit Menschen unterschiedlichster Herkunft, die Neugier auf das Fremde, die Anteilnahme am Schicksal der Anderen, ist vielen längst zum alltäglichen Bedürfnis geworden. Ihr multikulturelles Leben, die vervielfachten Kontakte untereinander treiben die Proletarisierten sukzessive über die herrschenden Klassengrenzen hinaus, die ihnen auch anhand des anachronistisch werdenden rassistischen Syndroms zu Bewusstsein kommen müssen.
Diese Tendenz existiert in allen demokratischen Klassengesellschaften des Westens, in der USA ebenso wie in Deutschland, England, Frankreich und Belgien, und betrifft all ihre Insassinnen und Insassen. Wie jede gesellschaftliche Tendenz muss sich auch die multikulturelle, u.a. als antirassistische Bewegung, politisch durch die bestehenden ökonomischen und sozialen Widersprüche hindurch entwickeln, bevor sie sich in der Form von neuen Denkweisen, Gesetzen und sozialtechnischen Verfahren (z.B. in der Polizeiarbeit und im innerbetrieblichen „diversity managment“ etc.) als verbesserte Produktionsweise für das Kapital gesellschaftlich durchsetzen kann.
2. These: Der traditionelle Rassismus muss sich anpassen. Die offene Diskriminierung dunkelhäutiger Menschen hemmt zunehmend die Fortentwicklung der vom Kapital selbst hergestellten, multikulturellen Gesellschaften.
Die Schwarzen, deren Vorfahren den Weltmarkt als Sklavenware betraten, haben in den vergangenen 400 Jahren in den weißen Mehrheitsgesellschaften des Westens einen relativen Klassenaufstieg hingelegt. Ihr afrikanischer Phänotypus ist inzwischen in allen Klassen vertreten. Gleichzeitig hat sich auf dem afrikanischen Kontinent längst eine eigene, auf einer eigenen kapitalistischen Entwicklung fußende „Paria-Bourgeoisie“ herausgebildet, die ihre wachsenden Ansprüche auf dem Weltmarkt geltend macht und deren unbedingter Fortschrittswille nicht nur in der vitalen Bilderproduktion der aktuellen Afrozentric ihren beredten Ausdruck findet, weil die Bewegungen an der ökonomischen Basis der Gesellschaften sich auch ideologisch ausdrücken müssen. Dies betrifft nicht nur den Bereich der Kunst, in dem das potentiell Mögliche gedacht wird, das Denken ebenso wie die Sprache, sondern auch die gewohnten Möglichkeiten der Individuen zur Projektion eigener, unter den gegebenen Verhältnissen unerfüllbarer Wünsche auf dunkelhäutige Menschen, die den Rassismus für Negrophobe bis heute so attraktiv erscheinen lässt.
Auch die fortschreitende Angleichung der Lebensverhältnisse der Proletarisierten in den kapitalistischen Zentren befördert das Bewusstsein darüber, dass die Schwarzen als Warentauschende zwar nominell gleich sind und dem Gesetz nach auch gleich sein sollen, als konkrete, dunkelhäutige Klassensubjekte aber immer noch viel zu oft ungleich behandelt werden. Dieser gesellschaftliche Widerspruch nötigt sich auch der weißen Elite – die in ihrem Alltag ebenfalls verstärkt mit Schwarzen zusammenarbeiten muss, mit Schwarzen befreundet oder liiert ist – auf, nicht nur als individuelle, moralische Anfechtungen, sondern auch als handgreifliche, ökonomische Notwendigkeiten, denen sie als Charaktermasken des Kapitals und gesellschaftliche Wesen gleichermaßen entsprechen müssen. Mit der fortschreitenden Teilung der Arbeit über den Globus hinweg, mit dem einhergehenden, relativen Klassenaufstieg einer Masse an Schwarzen vor Ort, modifizieren sich notwendig die sozialen Bedingungen, unter denen die alltägliche Konkurrenz stattfindet. Neue Konkurrenten betreten den Kampfplatz: Der schwarze Mann und die schwarze Frau. Neue Allianzen müssen geschlossen werden. Überkommene Vorurteile müssen transformiert oder sukzessive vergessen werden, damit die gemeinsame Verausgabung unterschiedlichster Arbeitskräfte aller Hautfarben weiterhin möglichst reibungslos vonstatten gehen kann.
Eine rassistische Diskriminierung ganzer Schichten innerhalb des Weltproletariats – als der einzigen den Wert vergrößernden Klasse – hemmt zunehmend das notwendige Fortschreiten der multikulturellen Gesellschaften des Kapitals an sich. Alle Momente des gesellschaftlichen Formwandels des Kapitals sind von dieser, letztlich ökonomischen Notwendigkeit betroffen, die Warenproduktion ebenso wie die Warendistribution. Die Anbieter der Waren müssen sich nach einem zunehmend „diversen“ Publikum richten. Für sie kommt es verstärkt darauf an vor ihrer Kundschaft modern aufzutreten, indem sie auch den Klassenindividuen mit dunkler Haut eine Bilderproduktion anbieten, anhand derer sie sich in ihrer Eigenart als von der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Herrschaft gewusst und anerkannt wissen können. Die immer häufiger gut ausgebildeten Schwarzen (ebenso wie die Frauen, die Moslems, die Homosexuellen, etc.) müssen sich auch in weißen Mehrheitsgesellschaften „kongruent“ fühlen können, damit ihre unter möglichst freien Bedingungen verausgabten Arbeitskräfte zur Verbesserung der gesamtgesellschaftlichen Produktivkräfte und damit letztlich zur Bewältigung der aktuellen ökonomischen Krise optimal beitragen können.
3. Mit der im eigenen Interesse betriebenen Fortentwicklung der Multikulturalität seiner Gesellschaften schafft das Kapital eine der notwendigen Vorraussetzungen seiner eigenen, bewussten Aufhebung durch das Weltproletariat:
Es wurde vielfach festgestellt, dass eine besondere Stärke der aktuellen Proteste in der vergleichsweise hohen Beteiligung weißer Menschen besteht. George Floyds, inzwischen ikonisch gewordenes „i cant breathe“ im Moment seines Todes, wird es vielen unmöglich gemacht haben sich wie bisher anhand dunkler Hautfarbe vom Opfer der Polizeigewalt zu distanzieren. In Zeiten des Lockdowns, in denen sich Millionen an kürzlich arbeitslos gewordenen Weißen vermehrt praktische Gedanken über das Plündern machen müssen, um zu überleben, ist das Gefühl, die Luft abgeschnürt zu bekommen, ein nahezu allgemeines. Diese Gleichmachung der Individuen in ihrer unmittelbaren Not verweist auf die zunehmende quantitative Multikulturalität der Gesellschaften, die in eine neue Qualität umschlagen muss.
Die Demonstrationen und Riots anlässlich der rassistischen Polizeigewalt scheinen für viele auch einer seelischen Katharsis gleichzukommen. In Gruppenritualen und öffentlich inszenierten Rollenspielen brechen sich unbewusste Schuldgefühle Bahn und es erscheint manchen offensichtlich so, als wären Schwarze an sich die besseren Menschen, als wären sie die Hüter eines Geheimnisses, dessen Enthüllung alle von der kapitalistischen Entfremdung befreien könnte. Ein Kommentator auf Youtube drückte seinen Wunsch nach einer spontanen Verschmelzung zu einer einzigen multikulturellen Masse unter dem Video „no lives matter!“ der Band „Bodycount“ wie folgt aus: Black and White unite!! We are the grey storm coming for the corrupt political class!!!“.
Mit dem Vollzug der eigenen gesellschaftlichen Bewegung hin zur Multikulturalität – und sei es nur aus bloßer ökonomischer Notwendigkeit und kalter Berechnung und nicht aus „innerer Überzeugung“ – schlagen sich die Charaktermasken des Kapitals sukzessive eines ihrer wirkmächtigsten, ideologischen Werkzeuge zur Spaltung des Proletariats aus den Händen, nämlich die tradierte Möglichkeit des Schürens der so genannten „Rassenfrage“ zur Prävention eines wirkungsvollen Klassenkampfs, den das Proletariat nur als wirkliches Weltproletariat, über alle Unterschiede der Hautfarben und „Kulturen“ hinweg vereint führen kann.
4. These: Der aktuell vorherrschende, auf dem Boden der kapitalistischen Vergesellschaftungsweise quasi „naturwüchsig“ erzeugte Antirassismus muss in sich widersprüchlich sein, weil er einem ganzen Bündel an unterschiedlichen, gar zuwiderlaufenden Klasseninteressen und dem üblichen Denken in entfremdeten Formen entspricht:
Mit dem Fortschreiten der kapitalistischen Produktionsweise ändern sich nicht nur die Klassenlagen der Schwarzen, sondern auch die innere Zusammensetzung der Klassengesellschaften, denen sie angehören. Die zunehmende Teilung der Arbeit, bedingt die permanente Vergrößerung des kapitalistischen Maschinenparks, ein zusätzliches Aufblähen des staatlichen Überbaus sowie die stetige Vergrößerung der Anzahl an managerialen Führungskräften innerhalb der proletarischen Klasse selbst. Die Aufgabe dieser Erzieherinnen, Pädagogen, Therapeutinnen, Betriebspsychologen und sonstigen Sozialtechnikerinnen ist es, die sozialen Verwerfungen einer immer komplexer werdenden Konkurrenz-Gesellschaft abzumildern und einzuhegen. In ihrem Berufsleben tun sie wenig mehr als andere Arbeiterinnen und Arbeiter im Auftrag des Kapitals und des Staates zu kommandieren, zu überwachen und zu dressieren, psychologisch und ideologisch. Sie managen die notwendige, möglichst reibungslose Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichsten Arbeitskräften. Mit Sozialtechniken, cultural awareness und „empowernden“ Gruppenspielchen sorgen sie dafür, dass die Proletarisierten, unter einer immer höheren Schlagzahl an direkten Kontakten untereinander, in immer häufiger aufs Neue zusammengewürfelten Teams, in einem sich permanent verändernden sozialen Umfeld und auf sehr unterschiedlichen Plätzen, weiterhin funktionieren können. Ihnen erscheint jedes soziale Problem auf technische oder administrative Weise lösbar, wenn die, die können, nur wollen und das richtige know-how besitzen. Der Schein, der sich ihnen aufgrund ihrer Stellung unter der gesamtgesellschaftlichen Teilung der Arbeit aufdrängt, bestätigt diese Auffassung. Ihnen zeigt sich die Gesellschaft als eine in Erziehende und Zu-Erziehende gespaltene, deren Entwicklung durch das Bewusstsein bestimmt wird. Die objektive Tendenz der Gesellschaft, die zunehmende Unangemessenheit der herrschenden Vergesellschaftungsweise in Anbetracht der entwickelten Produktivkräfte, erscheint ihnen ausschließlich als Frage einer richtigen Erziehung der Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie fordern die Ersetzung der herrschenden bad governance durch eine – am Besten von ihnen selbst umgesetzte – good governance, eine „farbenblinde“, möglichst gewaltfreie Prävention von Kriminalität. Zu ihnen gesellen sich die freiberuflichen Zeitungsschreiberinnen, die sich von Artikel zu Artikel hangeln müssen, die an der Akademie prekär beschäftigten Politologen und Soziologinnen, die Künstler und Projektmacherinnen im sozialen Bereich, die permanent um einen Teil des vom Proletariat abgepressten Mehrwerts, um die Steuergelder des Staates konkurrieren müssen. Deren Antirassismus ist längst auch ein Geschäft und mit jedem weiteren Opfer rassistischer Gewalt wächst ihre ideologische Macht, die sie als tendenziell von ihrer Klassenzugehörigkeit bestimmte Individuen und Charaktermasken der Ideologieproduktion, als Opfer-Lobbyismus, „politische“ Kunst oder „engagierten“ Journalismus beruflich ausbeuten müssen. Ihr Antirassismus meint das Verbot rassistischer Worte und das Entfernen von Statuen mittels derer den Kolonialherren und Sklavenhaltern gedacht wird; oder denjenigen, die sie hierfür halten. Auf diese Weise empfehlen sie sich schon jetzt zur Optimierung der Zurichtungsweisen wider das Proletariat an, die im weiteren Fortlauf der Coronakrise auf verschiedene Weise für das Kapital notwendig werden könnten, mit cultural awareness und einer permanenten Gängelei zu einer, an ihren eigenen bornierten Bedürfnissen ausgerichteten political correctness.
Der Trennung zwischen Hand- und Kopfarbeit folgend, interessieren sie sich kaum für die anhaltende, im Ökonomischen begründete, reale Unterschiedlichkeit der Schwarzen, sondern viel mehr für deren Repräsentanz in der modernen Kulturindustrie und in historischen Werken. Als würde die bessere Darstellung Schwarzer ursächlich etwas ändern an ihrer durchschnittlichen ökonomischen Inferiorität, der anhaltenden untergeordneten Stellung der afrikanischen Gesellschaften auf dem Weltmarkt sowie den rassistischen Vorstellungen, die auf dieser materiellen Wirklichkeit sprießen.
Subproletarische Schwarze, die in den heruntergekommenen crime areas amerikanischer Metropolen ihren Alltagskampf mit einer häufig rassistisch agierenden Polizei auszutragen haben, würden ihre Empörung während der heftigen, antirassistischen Uprisings bestimmt nicht auf rassistische Ausdrucksweisen in den Schriften alter Philosophen oder in Kinderbüchern aus den 1950er Jahren zurückführen.
5. These: „Black lives matter!“ ist keine revolutionäre Bewegung. Sie kann auf dem Boden der bestehenden kapitalistischen Verhältnisse den Rassismus nicht abschaffen, sondern lediglich abmildern. Die Bewegung verspricht vorerst nur in den USA relativ erfolgreich zu sein.
Die antirassistische Bewegung ist in jedem entwickelten kapitalistischen Land in unterschiedlicher Gewichtung und Tragweite vorzufinden, je nach dem Grad der Entwicklung der gesamtgesellschaftlichen Produktivkräfte, der herrschenden Vergesellschaftungsweise sowie der entsprechenden Klassenkämpfe vor Ort. Bis jetzt scheinen alleine in den USA, in der nach wie vor am weitesten fortgeschrittenen kapitalistischen Nation, die gesellschaftlichen Widersprüche und das Bewusstsein soweit gediehen zu sein, dass von der aktuellen Bewegung politische Ergebnisse zu erwarten sind, die ihrem Potential nach dazu dienen könnten, die soziale Lage der breiten Masse an Proletarisierten real zu verbessern. Nur in den USA, wo people of african descent unter der Versklavung, Segregation und rassistischen Diskriminierung zu einer proletarischen Schicht mit einer gemeinsamen Kultur zusammengeschweißt wurden und einen vierhundertjährigen Kampf für die vollkommene Gleichberechtigung innerhalb einer weißen Mehrheitsgesellschaft geführt haben („by any means necessary!“), scheint dies aktuell möglich. Dabei teilen die Antirassistinnen und Antirassisten die Irrtümer, Fetischismen und gedanklichen Verkehrungen der Klassengesellschaft, auf der ihre Bewegung sozial fußt, oder sie perpetuieren diese unter eigenen Vorzeichen. Selbstverständlich befinden sich unter ihnen auch Antisemitinnen und Spinner aller Couleur, wie sie in der restlichen Mehrheitsgesellschaft auch zu finden sind.
„Black lives matter!“ ist zuvorderst eine Bewegung des modernen Proletariats aller Hautfarben an sich, in den kapitalistischen Zentren. Deren Bewegung bedeutet keine wirkliche Revolution, sondern viel eher einen „68er-Moment“, den die von den aktuellen Protesten betroffenen Gesellschaften durchmachen müssen, damit sich deren bisherige Vergesellschaftungsweise den entwickelten Produktivkräften anpassen kann.
Da die andauernden rassistischen Vorurteile gegen schwarze Menschen dem realen, aber falschen Schein einer in Klassen und Klassensegmente parzellierten Gesellschaft entspringen und an der ökonomischen Basis der Gesellschaft immer wieder aufs Neue erzeugt werden, können sie nicht mit diversity trainings und antirassistischen Ermahnungen für Polizeibeamte beseitigt werden. Real ist, dass die Schwarzen im Durchschnitt und im weltweiten Vergleich viel schlechter ausgebildet sind als die Weißen und dass die Gesellschaften, aus denen sie stammen, sich nach wie vor auf einem viel niedrigeren Grad der kapitalistischen Entwicklung befinden als die Industrienationen, die den Weltmarkt seit dem transatlantischen Sklavenhandel beherrschen. Falsch ist, dass diese von der Weltmarktkonkurrenz bedingte, relative Inferiorität der schwarzen Klassensubjekte im konkreten Alltag ursächlich etwas mit ihrer Hautfarbe zu tun hat.
Der einzig realistische, nicht utopische Weg die rassistische Gewalt der Polizei unter den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen ad hoc zu vermindern ist, die konsequente Reduzierung der Kontakte zwischen ihr und der schwarzen Bevölkerung. Durch die Legalisierung von weichen Drogen würde das Verfolgen und Einsperren von Dealern überflüssig werden. Längst wird das gesellschaftliche Gespräch über den weit verbreiteten Marihuana-Konsum in den USA auch unter diesen Vorzeichen geführt. Durch die Ersetzung klassischer Polizeiarbeit, wo dies möglich ist, durch regelmäßig gewählte und von den Kommunen finanzierte community-guards und Sozialtechnikerinnen, ließe sich die rassistische Polizeigewalt wirkungsvoll eindämmen. Und die left-wing-liberals haben für die Realisierung ihrer entsprechenden Forderungen längst die richtige Parole gefunden: „Defund the police!“. Dem amerikanischen Proletariat sind über die Geschichte seiner Klassenkämpfe hinweg die Mittel zugekommen, die es benötigt, um eine Nivellierung staatlicher Herrschaft, die Übernahme eines Teils der Verantwortung für den öffentlichen Frieden vor Ort zu gewährleisten. Die quasi militärischen Fähigkeiten einer bewaffneten Gesellschaft wie der nordamerikanischen und eine jahrzehntelange Tradition selbst organisierter community work in von Schwarzen bewohnten Vierteln macht dies denkbar. In Zeiten der größten ökonomischen Krise aller Zeiten, im Angesicht eines dramatischen Einbruchs der Steuereinnahmen, müssen sich die ideellen Gesamtkapitalisten über kaum etwas mehr ihre Köpfe zerbrechen als über die Einsparung öffentlicher Gelder. Sie müssen sowieso „defunden“, ihnen stellt sich lediglich die Frage, in welchem Bereich sie dies tun werden. Eine entsprechende Reform der Polizeiarbeit, ein Zurücknehmen des Gewaltniveaus der Organe des Staats, wird die Gesellschaft in Widersprüche auf höherer Stufenleiter treiben.
Das Proletariat muss, wenn es als wirkliches Weltproletariat für sich letztlich über seine Unterdrücker obsiegen will, auch die partikularen Klasseninteressen innerhalb seiner eigenen sozialen Bewegungen erkennen, die sich immer wieder als allgemeine Interessen tarnen. Dies gilt nicht nur für nationale, sondern auch für internationale Auseinandersetzungen. Wenn von der russischen Regierung oder der chinesischen KP finanzierte und gelenkte Internetmedien wie „ruptly“ die „Black-lives-matter!“-Proteste wohlwollend begleiten, dann geschieht dies nicht aus inhaltlicher Zustimmung. Die mediale Unterstützung der extremen Rechten ebenso wie der Linken durch das despotische Lager entspricht dessen Strategie, politischen Zwietracht in westlichen Gesellschaften zu schüren. Durch die zusätzliche Spaltung der öffentlichen Meinung entlang der bestehenden Widersprüche, soll auch deren Handlungsfähigkeit in der Außen- und Militärpolitik eingeschränkt werden.
Das Proletariat in den westlich-demokratischen Ländern kann aktuell kein Interesse am Zusammenbruch der herrschenden Ordnung haben, weil es selbst noch keine eigenständigen, geschichtsmaterialistisch forschenden und politisch kämpfenden Organe ausgebildet hat, die sicherstellen könnten, dass längst erreichte, von der Gesellschaft garantierte Freiheiten nach dem Sturz der aktuellen Regierungen erweitert und nicht zusätzlich eingeschränkt werden.
Eine bisher nur geistig zu antizipierende proletarische Partei müsste zunächst die realen Möglichkeiten zur Verbesserung der eigenen Lage ausloten; nicht anhand der Illusionen, die sich die antirassistisch Protestierenden und ihre Gegner über sich und ihre eigene Rolle in der Gesellschaft machen, sondern anhand der widersprüchlichen Bewegungen an ihrer ökonomischen Basis und den entsprechenden politischen Tendenzen – von denen der Antirassismus nur eine von vielen darstellt – durch die sich jeder gesellschaftliche Fortschritt hindurch entwickeln muss, solange der Kapitalismus fortbesteht.
proletarische passagen am 10.08.2020